Der große Preis

Kennen Sie noch den Großen Preis mit Wim Thoelke? Das gab es in den Siebzigern, wahrscheinlich auch noch eine Weile danach. Damals saßen drei Kandidaten jeweils in einer komischen orangefarbenen Glocke und beantworteten Fragen. Die Fragen waren von dem etwas übergewichtigen, aber immer milde gestimmten Wim sehr präzise gestellt. Es ging um Wissen, um präzises Wissen, keine Fuzzy Logic. Wer die Antwort wusste oder als erster den Knopf drückte, durfte die Antwort sagen. Und zwar nicht nur a) oder c), sondern eine eindeutige Antwort auf eine eindeutige Frage. Wim ließ nur exakte Antworten zu. Wer in seiner Antwort ein paar Buchstaben verdrehte, wurde mit einem lauten, mechanischen “brrrrrrrrrrr” abgewatscht. In der Pause kamen Wum und Wendelin. Das war alles so eine wunderbar harmlose Unterhaltung.

Damals wussten wir noch was

So richtig spannend wurde es in der Finalrunde. Da konnte man alles gewinnen oder auch verlieren. Die Kandidaten mussten schon vorher ein Spezialthema aussuchen. Sie bekamen drei Umschläge. Einen davon durften sie wählen und dann einen großen Kopfhörer aufsetzen.

Ich weiß nicht mehr, ob sie sich die Fragen dann noch kurz anschauen durften, aber soweit ich mich erinnere, hatten sie noch kurz Zeit. Dann wurden die beiden anderen Glocken in den abgedunkelten Hintergrund geschoben und Kandidat A wurde perfekt ausgestrahlt. So wie Ilja Richter in Disco 78. Gab es eigentlich auch Disco 77, Disco 79? Ich habe das in meinem Langzeitgedächtnis jedenfalls unter „Disco 78“ abgespeichert

Zurück zum Großen Preis, Finalrunde: Drei Fragen musste also der Kandidat beantworten, dafür hatte er 60 Sekunden Zeit. Für manche war das eine Ewigkeit, andere mussten sofort loslegen,. Es wurden Fakten, Hintergründe, Zusammenhänge erklärt. Wir fieberten mit — ich muss allerdings zugeben, mich interessierte eher Dalli Dalli, das sich damals den Termin am Donnerstag Abend mit eben dem Großen Preis teilte, aber die Finalrunde war immer spannend. Da konnte man eine Menge lernen. Echtes Wissen. Ein Wissen, das einfach abgerufen werden musste. Kein Wissen, dass so ungefähr funktioniert wie „Antwort A und C kann ich ausschließen, hmm, bleibt B oder D übrig. Mist, Telefonjoker schon weg. Also, ich setze jetzt mein Ichweißesganzbestimmtgesicht auf und sagen B".

Wenn man präzise raten muss, wird es schnell peinlich

Bei dem Großen Preis wurde sicherlich auch viel geraten und die Antworten waren bestimmt oftmals peinlich, das konnte ich damals noch nicht beurteilen, ich hätte sicherlich noch viel peinlichere Antworten gegeben. Aber die Leute haben sich getraut, präzise Antworten hatten Wert.

Warum ich darüber schreibe? Wir werden zunehmend zu Supergeneralisten, die gerade noch Zusammenhänge verstehen oder sie zumindest ergooglen können, darüber hinaus aber keine Zeit mehr zum Lesen und tiefen Lernen haben. Das beobachte ich jedenfalls bei mir. Die Zeiten kommen nicht mehr wieder, das weiß ich auch.

Ich möchte auch nicht allzu lange in Nostalgie schwelgen, denn es geht immer nach vorne. Aber damals hatte ich noch Zeit, eine Musikplatte mehrmals durchzuhören, von Anfang bis zum Ende. Selbst weniger spannende Lieder hörte ich mir schön. Ich studierte die Texte der Lieder und überlegte mir dabei, warum der Text so geschrieben wurde, was damit wohl gemeint war. Ja, ich war damals der Ansicht, dass Inhalte tiefe Botschaften tragen. Ob das meine Kinder auch mal so sehen? Wohl nicht. Wenn sie so Musik hören wie ich jetzt - aktiv Musikhören heißt, mp3s anklicken, eine Minute anhören und dann zum nächsten Lied, passive Musikhören heißt, eine Internetradiostation anzuschalten - dann gerät die Musik zu einer Nebensache. Für mich und meine Freunde damals war das wichtig, die Welt.

Wer liest noch etwas zu Ende?

Wie kommen wir wieder raus aus dieser Beliebigkeit gegenüber Inhalten, weil einfach niemand mehr Zeit hat, um sich etwas lang durchdachtes durchzulesen oder sich etwas in voller Länge anzuhören?

Vielleicht ist das auch der Beginn der Abwendung des Produktivitätswahn, der sich immer mehr in unser privates Leben schmuggelt? Wieder mehr Zeit zum Träumen, zum Ausprobieren, zum zielungerichteten Leben. Dann können wir auch mal wieder in die Tiefe lernen. Auch in zunächst unsinnigen Anwendungen. Warum sollte man sich in das Thema Botanik reinarbeiten? Da gibt es keinen Auftrag und das Wissen wird kein Geld bringen. Aber wenn man weiß, welche Blumen, Gebüsche, Bäume und Kräuter auf dem Weg liegen, dann verbindet das mit dem Ort. Dann reicht auch nicht a) Brennnessel, b) Giersch, c) Lavendel oder d) Löwenzahn. Mehr schaffen wir anscheinend nicht mehr in dieser Welt voller Impulse. Wenigstens hat Dalli Dalli noch seinen Klang behalten. Jetzt aber Dalli Dalli. Das kennen sogar meine Kinder.