Spielintelligenz fördern

Hier in Australien wird nur im Winter Fußball gespielt. Für meinen Sohn war das zunächst ein Schock und eine Riesenenttäuschung. Im Sommer spielen die Australier Cricket, denn da macht es nicht viel aus, wenn alle stundenlang herumstehen. So ist die Hitze besser zu ertragen.

Doch auch im Winter funktioniert hier Fußball anders. Es gibt „Community Football“ und ein „Skills Akquisition Programme“ (SAP). Wer öfter als ein Mal pro Woche trainieren, also „richtig“ Fußball spielen will, muss für ein halbes Jahr SAP über 1.000 Dollar zahlen (das sind gute 600 Euro). Im ersten Jahr hat unser Sohn SAP gespielt. Wir wussten es nicht besser. Nur so viel: Der Verein wollte den SAP-Spielern mehr Spielintelligenz einflößen. Die Jungs sollten am Ende der Saison in der Lage sein, selbst Lösungen für schwierige Spielsituationen zu finden. Erfrischende Idee, also gut Kick.

Selbstorganisiert Fußball spielen 

Statt die Kids kaputtzucoachen sollten sie ein selbstorganisierender Haufen werden. Guter Ansatz, dachte ich mir. Irgendwie ziemlich „agil“, wunderbar selbstbestimmt. Doch was sich so vielversprechend anhörte, erwies sich letztlich als Rohrkrepierer. Denn die anderen Teams in der Liga hatten eine konkurrierende Philosophie. Vereinfacht: „Wir wollen gewinnen, egal wie.“

Eigentlich sollten laut SAP-Regelwerk die gewonnenen oder verlorenen Spiele gar nicht gezählt werden. Aber sag das mal 11-jährigen Jungs. Während die anderen Teams lautstark dirigiert wurden, standen unsere Jungs recht umorganisiert herum – und wurden mitunter zweistellig vom Platz gejagt. Unser Trainer schaute sich das ganz ruhig an, griff aber niemals ein. Bemerkenswert. Wahrscheinlich ein Stoiker.

Sprint-Retrospectives in der Halbzeitpause

In der Halbzeitpause fragte der Trainer die Jungs: „Wie ist es gelaufen – und was wollt ihr in der zweiten Halbzeit besser machen?“ (also eine Art „Sprint-Retrospective“, wenn man so will). Die Spieler sagten etwas. Und der Trainer: „Okay, dann probiert, ob es so geht.“ Das gleiche Ritual mit denselben Fragen nach dem Spiel. In den Augen des Trainers war das Ergebnis nicht wichtig. Stattdessen lobte er aufrichtig und mit konkreten Beispielen die Anstrengungen und Agilität des Teams. Ich fand das sehr beeindruckend. Doch die Jungs wurden mit jedem verlorenen Spiel unbeeindruckter und mutloser.

Tolles Konzept, aber warum hat es nicht so geklappt wie gedacht?

  1. Es fehlten die Strukturen und das Spielverständnis: Oft standen sich die Jungs in den Spielen wortwörtlich auf den Füßen. Sie hatten im Training nicht gelernt den Raum zu nutzen. Ohne (Frei)Raum ist das Selbstorganisieren und das Improvisieren natürlich schwierig.

  2. Es wurde nicht auf dem Platz gesprochen, es gab keinen Leader: Die Kids sollten sich selbst sortieren (was für Elfjährige nicht immer einfach ist, wenn die Eltern den ganzen Tag klare Anweisungen geben, oft auch mehrmals). Das klappt in einem Team nur, wenn sich alle permanent absprechen. Stattdessen: Stille. Niemand hat mal gerufen: „Hey, schick den Ball hier rüber und wir spielen zwei Doppelpässe bis zum Tor…“ Auch gab es keinen Leader, der mal lautstark das Team anfeuert („Jungs, die spielen immer nur auf der einen Seite, lass es uns auf der anderen Seite versuchen“). Keine Reibung, kein Feuer.

  3. Jeder schaute nur auf den eigenen Ball: Bis zum Ende der Saison schaffte das Team es nicht, als Mannschaft aufzutreten. Wer den Ball hatte, versuchte nach vorne zu dribbeln. Ball abgeben? Überbewertet. Ich fragte mich oft, warum die Jungs nicht rechts und links schauten, sondern wie Rugby-Spieler nur dumpf mit dem Ball am Fuß nach vorne rannten. Das muss in der australischen DNA liegen, dachte ich mir.

    Nach der Saison verstand ich es: Die Kids bekommen am Ende der Saison ein „Zeugnis“ mit Noten und einer Bewertung (so viel zum scheinheiligen „Aber wir zählen keine Tore, Siege und Niederlagen“). Danach müssen die sich die Kids über “Trials” wieder neu für das SAP-Programm des Vereins bewerben. Das heißt: Die Spieler sahen sich nur als Einzelkämpfer, die nächstes Jahr schon vielleicht bei einem anderen Verein sind. Während der Saison spielen sie für die Aufmerksamkeit Eltren und der Trainer der gegnerischen, besseren Mannschaft. Elfjährige als berechnende Söldner? Hör auf. Die sollen doch Spaß am Spiel haben. Mehr nicht!

  4. Die anderen haben sich nicht an die Regeln gehalten: Die anderen Mannschaften wollten mit allen (robusten) Mitteln gewinnen. Der Trainer der gegnerischen Mannschaft hat aktiv gecoacht. Unsere Jungs hatten keine Chance gegen die im Training fein choreografierten Spielzüge der Gegner. Interessant wäre es geworden, wenn sich alle an das „No Coaching“ gehalten hätten. Aber anscheinend konnten sich die Vereine nicht einigen. Was macht man in einer solchen Situation? Ebenfalls aktiv coachen oder weiterlaufen lassen? Ich finde es stark, dass der Chefstoiker seiner Linie treu blieb. Einige der besonders ehrgeizigen Eltern am Spielfeldrand („Mein Sohn geht nach Manchester, wenn er 16 ist.“) fanden das aber weniger überzeugend. Egal, die sind jetzt sowieso in einem anderen Verein.

Was können wir daraus in der Geschäftswelt lernen?

Und jetzt kommt mein tiefer Spagat in die Geschäftswelt. Denn die Fußball-SAP-Erfahrungen sind auch wertvoll für das Business:

  • Wer agil und flexibel sein will, muss genau wissen, was er was und wozu macht (Spielintelligenz). Ohne Erfahrung wird es schwierig.
  • Ohne Kommunikation innerhalb des Teams verliert man jedes Spiel (offene, transparente Kommunikation).
  • Wer den agilen Teams nicht viel Zeit und Vertrauen gibt, sollte es vielleicht gleich lassen (Mut zu Veränderungen und durchhalten).
  • Wer nicht mit der Freiheit und der Verantwortung zurechtkommt, braucht vielleicht Unterstützung, zum Beispiel ein subtiles Coaching (Mitarbeiter befähigen).
  • Das Spiel muss Spaß machen. Und das Projekt auch. Wenigstens darum sollte sich der Coach kümmern (klares Erwartungsmanagement und Erfolge auch feiern).

Mein Sohn spielt mittlerweile Community-Football – auch in der Hoffnung, dass die Jungs dort viele Jahre als Team zusammenbleiben. Er hat endlich wieder Spaß am Fußball und darum geht es ja letztlich.