Vom Agilsen, Nutz- und Wertlosen (als Verb)

In einer anderen Notiz hatte ich schon erklärt, warum „agil“ nicht immer „flexibel“ ist. Und, machen wir uns doch nichts vor, oft versteckt sich im Spielerischen der agilen Methoden viel Druck und Stress. Denn es geht ja letzlich immer um die Maximierung des Wertes für die Stakeholder, also für die Käufer, Nutzer, Investoren und Sponsoren. Wenn kein nachvollziehbarer Nutzen und messbarer Wert erkennbar ist, ist es schnell vorbei mit dem agilen Experiment. Auch kann das agile Arbeitsleben ganz schön stressig sein, denn es gibt keine Atempause zwischen den Sprints. Dieses „Agilsen“, ich führe das mal als Verb ein, verspricht kurzfristig eine neue Art des Arbeitens, bei der sich alle nach dem tatsächlichen Ergebnis und der Wertschöpfung orientieren (also in der Theorie nur das bearbeiten, was wirklichen Wert und damit Fortschritt bringt). Wer nicht auf den Wert achtet, produziert nur Innovationen, die momentan noch recht nutzlos sind, aber für die Zukunft wie ein indischer Wahrsager viel Wert versprechen. Anderes Thema.

Wer agilst, führt im Team bessere Diskussionen, versteht hoffentlich besser, was benötigt wird. Aber diese spitze Konzentration auf den Wert verengt auch die Sichtweise des Teams. Wo ist die Kreativität, wo die neuen Ideen? Die kommen sicherlich nicht, wenn man die vielen Aufgaben aus dem Sprint-Backlog abarbeitet. Um uns mehr Raum für die guten Ideen zu öffnen, benötigen wir etwas, was es der agilen Welt nicht vorgesehen ist: das „Nutzlosen“. Ja, das ist ein Verb. Du kannst überall „nutzlosen“: bei einem Spaziergang ohne Airpods, beim Spielen mit deinen Kindern, beim Freewriting, aber nicht vor dem TV. Denn dort lässt du dich nur berieseln und beschäftigst dich nicht mit dir in der Stille. Beim Nutzlosen versuchst du einfach nichts zu erreichen. Für viele ist das schwer vorstellbar. Was, einfach so dahinleben, ohne nebenbei die Spülmaschine aufzuräumen? Genau, einfach so leben, die Gedanken vorbeiziehen lassen, nur am blauen Hintergrund festhalten, atmen, alles loslassen, eine Weile nutzlosen.

Wenn du eine Stunde nutzlost, dann ist sie nicht wertlos. Die Stunde hast du voll gelebt, ohne dass du von anderen Menschen oder deinen eigenen Gedanken getrieben wurdest. Wie viele andere Tätigkeiten muss das Nutzlosen kultiviert und geübt werden. Du könntest meditieren oder dich einfach nur auf eine Bank setzen und vor dich hinzustarren. Oder du startest mit 10 Minuten nutzlosen pro Tag? Gehe einfach raus und laufe um den Block, schaue dich um, atme tief ein, schaue dir die Natur, die Häuser und Menschen um dich herum länger und genauer an, ohne dabei zu bewerten. Lass es einfach so sein wie es ist. Du wirst merken, dass du mit der Zeit immmer besser im Nutzlosen sein wirst, vermeide aber das Messen der Nutzlosigkeit. Denn dann bist du wieder auf dem Weg zum agilsen, was du den restlichen Tag machen kannst. So lange das Nutzlosen nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist (übrigens ist das Nutzlosen nicht zu verwechseln mit dem Prokastinieren!), hilft es, das Nutzlosen als festen Termin einzutragen. Später brauchst du das nicht mehr.

Ich wünsche dir im Jahr 2022 viele nutzlose und auf den ersten Blick wertlose Stunden, in denen du dir näher kommst, neue Inspirationen bekommst und diese dann in dein Alltagsleben einfließen lassen kannst.