Buchnotiz: ‘Nachruf auf mich selbst: Die Kultur des Aufhörens‘ von Harald Welzer

Kürzlich habe ich ein Dokument gefunden, das ich vor sechs Jahren geschrieben habe: einen Nachruf auf mich selbst. Ich kann mich noch genau daran erinnern, denn ich habe den Nachruf nicht geschrieben, sondern auf einem langen Spaziergang durch das „Buch“, einer grünen Oase in Wangen, diktiert. Gestern habe ich es einem meiner Söhne vorgelesen. Er meinte, es würde zu 95 Prozent stimmen. Er wollte mir nicht genau sagen, welche fünf Prozent fehlen, aber nun gut.

Die letzten Bücher von Harald Welzer habe ich regelrecht verschlungen (meine Favoriten aus seinem Kanon: Selbst denken und Smarte Diktatur) und so freute ich mich auf die Lektüre des neuesten Werks „Nachruf auf mich selbst: Die Kultur des Aufhörens“. So wie das Buch bin auch ich etwas gespalten. Der erste Teil ist mir etwas zu vergeistigt, da spielt Welzer zu sehr für die Soziologen-Galerie, braucht er doch gar nicht. Seine geschliffenen Aphorismen erfreuen wie immer, aber als Leser habe ich mich die ganze Zeit gefragt, wie er denn jetzt noch den Schwung zum Nachruf schafft. Er trifft sich mit interessanten Menschen und webt geschickt deren Lebensweisheiten zum Handeln, Aufhören, Sterben und Leben ein. Da finden sich spannende Erkenntnisse, aber das Buch nimmt erst mit den persönlichen Gedanken Fahrt auf.

Für das zweite Lesen reicht die hintere Hälfte des Buchs. Die hat es aber in sich. Recht spät lässt Welzer die Katze aus dem Sack: Er hatte kürzlich einen Herzinfarkt, den zunächst er aber nicht so richtig wahrhaben wollte. Er ist mit dem Fahrrad zur Ärztin gefahren. Dort bekam er dann die Nachricht, dass er einen Herzinfarkt und viel Glück hatte es überhaupt ins Krankenhaus zu schaffen. Ein derart einschneidendes Erlebnis gibt Impulse zum Umdenken und zum Handeln.

Mit der Endlichkeit des Lebens im Blick, entstand dieses Buch. Müsste ich es kurz zusammenfassen, dann so: Wir sollten endlich aufhören über die Zukunft zu sprechen, sondern jetzt handeln. Und gleichzeitig müssen wir das Aufhören lernen, es kultivieren und den Abschied feiern.

Meine Buchnotizen und Gedanken dazu (in Worten von Welzer und mir):

  • Innovation vs Fortschritt: Wir brauchen Fortschritt. Aber wohin sollen die Schritte führen?
  • Hohle Vorbilder: Techno-Held Elon Musk hat nur Mobilitätsutopien aus den 1950er-Jahren im Angebot: Raketen, Autos und Hyperloops. Man kommt damit schnell irgendwohin. Fragt sich nur, was man da will.
  • Nicht optimieren, lieber weglassen: Das Auto muss nicht verbessert werden, es muss weg. Wir verschwenden Zeit mit dem Optimieren von Dingen, die wir nicht benötigen.
  • Aufhören ist eine Stärke, keine Schwäche: Wir haben keine Methodik des Aufhörens, deswegen fällt es uns auch so schwer.
  • Ein Leben ohne Tod ist kein Leben: Wir führen unser Leben so, als ob wir nicht sterben müssten. Ein Leben lang lernen – so what? Was haben wir daraus gelernt? Und was getan?
  • Den Fortschritt bremsen mit Zielen, die Handlungen setzen: Das ist bequemer. Wir verschieben einfach das Problem der Gegenwart in die Zukunft. Und unsere Kinder werden uns dafür hassen.
  • Ziele blockieren den Weg: zu viel Blablabla von Bremsern. Dabei müssen die Zukunftsprobleme nicht in der Zukunft, sondern jetzt gelöst werden. Warum hören wir noch auf die alten Männer in den Anzügen?
  • Bewusstsein ist nur lose mit dem Handeln verknüpft: Ein nachhaltiges Bewusstsein heißt noch nicht, dass wir auch so handeln.
  • Ketten, nicht Krisen: Haben es nicht mit einzelnen Krisen zu tun, sondern mit sich entfaltenden Ereignisketten. Und wir stehen nur mit Händen in den Taschen herum und beobachten im Live-Stream und in Eilmeldungen, wenn sich die Ereigniskette weiter verlängert.
  • Jetzt handeln: Die Zeit der Veränderung ist die Gegenwart, nicht die Vergangenheit, nicht die Zukunft. Mehr gibt es nicht.
  • Betrunken und dumm: Wir handeln alle sind wie der Betrunkene im Witz, der seinen verlorenen Schlüssel nur im Laternenschein sucht, weil es überall woanders zu dunkel ist.
  • Endlich aufhören: Aufhören braucht einen Grund, aber aufhören zu können, braucht Können. Das muss man üben.
  • Verzichtsabenteurer sein: Fortschreiten durch Verringerung von Aufwand, nicht durch Erhöhung. Leichtigkeit, Entlastung von Ballast, Aufwand, Technik.
  • Aufhören feiern: nicht einfach nur abschalten, sondern das Abschalten schon vorher feiern. Schließlich war uns das, was wir nun aufhören, wichtig. Jetzt ist es aber nicht mehr wichtig und muss weg.
  • Wir wollen doch nur geliebt werden: Die Angst davor, nicht oder nicht mehr geliebt zu werden, ist der Kern hinter allem Ungelösten auf dem Sterbebett.
  • Ach hätte ich doch…: Wenn wir kurz vor dem Tod in Konjunktiven sprechen, dann haben wir nicht genug gehandelt und losgelassen.
  • Das Leben ist nur bitter für die, die es sich süß vorstellen (Fund aus Film »Sans Soleil« von Chris Marker).
  • Abrechnung: Es kommt auf andere Dinge an, sammeln wir lieber Emotionen, bei denen Ursachen nichts mit Wirkungen zu tun haben.
  • Das Leben (und der Tod) ist nichts für Angsthasen: Das Nur wer vor dem Leben Angst hat, hat Angst vor dem Tod.
  • Was nimmt sich Welzer vor: Aufhören mit dem Optimieren; gute Fehler machen; einfach das sagen, was man denkt; richtige Fragen stellen, nicht gleich mit falschen Antworten ankommen. Finde ich gut. Nehme ich mir auch vor.

Die Buchnotizen schreibe ich nur für mich. Deswegen lesen sie sich vieleicht etwas kryptisch. Lies es doch einfach selbst.Weitere Buchnotizen findest Du hier.