Ein kurzer Abend mit Garry Disher, einem australischen Krimiautoren

Kürzlich war ich hier in Newcastle bei einer Buchvorstellung eines australischen Krimiautors, dessen Bücher ich seit einer Weile verschlinge: Gary Disher. Ein paar Tage vor der Veranstaltung chattete ich mit einem Kumpel in Deutschland. Wir redeten über die Pläne für die nächsten Tage und ich erwähnte, dass ich einen wahrscheinlich in Deutschland unbekannten Autor sehen würde. Es stellte sich dann ganz unerwartet heraus, dass Disher in Deutschland recht bekannt ist und mein Kumpel gerade ein Buch von Disher liest. Es war in einer Überraschungsbuchkiste, die er von seinem örtlichen Buchhändler bekommt (gute Idee!).

Disher wurde von Dan Cox, einem Radiomoderator von ABC Newcastle moderiert. Die Newcastle City Library sieht älter, ehrwürdiger aus, als sie ist. Sie wurde 1988 vom australischen Star-Architekten Romaldo Giurgola entworfen, der auch das Australian Parliament House in Canberra designt hat. Für mich hat die Library mit ihren hohen Decken, viel Glas und beigefarbigem Marmor einen coolen 60er Jahre-Vibe. Wie auch immer: Es wurde Wein und Bier ausgeschenkt, es gab Käse, Kräcker, grüne und rote Weintrauben, die bei dem typischen Publikum für Buchlesungen (Bildungsbürger ab 60, Modell flotter Lehrer-Rentner-gutes-Leben) gut ankamen.

Disher, ein drahtiger Mann, Anfang 70, macht einen sympathischen Eindruck; wirkt jünger, mental sehr agil, feiner Humor. Er ist zurückhaltend und gleichzeitig zuvorkommend, höflich; eine gute Mischung aus britischer Reduktion und australischem Easy-Going. An diesem Abend wirkt er allerdings etwas müde und wahrscheinlich wäre er jetzt viel lieber auf seiner Mornington Peninsular Island in der Nähe von Melbourne als hier vor 40 Leuten zu sitzen, um Fragen zu beantworten, die er schon oft beantworten mussten. Ich weiß nicht, was in den Verträgen der Verlage steht, aber Disher muss sicherlich ein paar dieser Termine einfach abarbeiten, um sein neues Buch „Days End“ vorzustellen. Es half wahrscheinlich nicht, dass er kurz vorher mit Cox bereits einen 25-minütigen Podcast mit ähnlichen Fragen aufnehmen musst.

Disher hat eine angenehme, tiefe Stimme und beantwortet jede Frage von Dan Cox, dem man anmerkt, dass er ein Radiomoderator der täglichen ABC-Morgenshow ist. Er ist ein typischer Radio-Sprecher, der über jedes Thema sprechen kann. Seine Stimme wirkt vertraut, obwohl ich seine Sendung bisher kaum gehört habe (nun höre ich fast jeden Morgen „Breakfast with Dan and Jenny“).

Cox ist ein netter Kerl. Ich hätte mir nur gewünscht, dass er mit Disher nicht nur seine vorher ausgedachten Fragen durcharbeitet, sondern Disher eine längere Antwortleine gibt, tiefer bohrt, mehr Platz zum Ausbreiten von Geschichten gibt. Denn man merkt, dass Disher kurzfristig aufwacht, wenn er gefordert wird. Dann kommen persönliche Geschichten zum Vorschein und man versteht besser, wie Disher das Leben und die Menschen beobachtet und daraus Geschichten webt. Jeder Mensch hat so seine Tageszeit. Bei mir ist es der Vormittag, da fühle ich mich am kreativsten. Disher ist jemand für einen Mittwoch-Nachmittag, an dem man plötzlich zwei ungeplante Stunden Zeit findet, zum Meer fährt, eine Weile barfuß im Sand läuft und einfach „unproduktiv“ die Sinne schweifen lässt.

Mit Disher würde ich am liebsten einen ganzen Tag in Ruhe verbringen, bevorzugt in Bewegung, auf einem langen Spaziergang, vielleicht auch auf der knapp zweistündigen Zugreise nach Melbourne; mit vielen langen Schweigepausen, in denen wir einfach die Landschaft vorbeiziehen lassen.

Was habe ich aus der Veranstaltung mitgenommen? Hier sind meine Notizen:

  • „Hirsch“ ist der Protagonist vieler Bücher von Disher. Er ist ein Polizist, ein Outsider in einem kleinen Ort. Warum kommt er bei den Lesern so gut an? Er ist ein sehr freundlicher Typ und hat ein gutes Sinn für Humor. Er nimmt sich selbst nicht so ernst, aber ist sehr ernsthaft im Umgang mit den Menschen, mit denen er interagiert. Er bestraft nicht so schnell.
  • Oft kümmert sich Hirsch um Jugendliche, die aus welchen Gründen auch immer vom Weg abgekommen sind, und er versucht verständnisvoll mit ihnen umzugehen und so weiter. Er versucht zu verstehen, was die Leute antreibt, und wie er ihnen helfen kann.
  • Hirsch ist die Exekutive, aber er berät auch Menschen, wie zum Beispiel eine Witwe mit einem schizophrenen Sohn, oder im neuesten Buch, und in einem der anderen früheren Bücher, zwei Teenager in der Stadt, die sich um ihre bipolare Mutter kümmern. Also er achtet auf solche Menschen. Also ist es seine Persönlichkeit, aber auch sein Wille, Menschen zu helfen, egal in welcher Situation sie sich befinden.
  • Es muss eine Mischung aus einer großartigen Geschichte und einem tollen Charakter sein. Man kann ein fantastischer Plotter sein und allerlei Wendungen und aufregende Dinge passieren lassen, aber die Geschichte wird nicht spannend sein, wenn man sich nicht um den Charakter kümmert.
  • Die Leser sollten mit dem Hauptcharakter soll. Wyatt ist zum Beispiel das komplette Gegenteil von Hirsch. Er ist ein Killer, eiskalt, gnadenlos, gründlich. Er raubt Banken aus und er ist ein Planer. gründlich. Es gibt fast nichts anderes, was man über ihn sagen könnte, und er würde töten, wenn er verraten wurde oder in Gefahr ist, ermordet zu werden.
  • Faustregel für Schriftsteller: Man muss seine Charaktere wirklich gut kennen. Manchmal aber genau nicht: Bei den Wyatt-Romanen lässt Disher das aber bewusst nicht zu. Wenn er anfangen würde, Wyatts belastete Kindheit zu erforschen, zum Beispiel, dass er einen alkoholkranken Vater oder eeine drogenabhängige Mutter hat, dann wäre Wyatt verletzlich und eben nicht mehr Wyatt. Aber gleichzeitig scheinen die Leser ihn zu mögen. Sie mögen diese Seite von ihm. Disher bekommt Briefe, in denen Leser sagen, dass sie nicht gut finden, was Wyatt macht, aber sie wollen, dass er gewinnt.
  • Disher hat in Deutschland wichtige Auszeichnungen gewonnen und ist gerade von seiner vierten Autoren-Tournee aus Deutschland zurückgekehrt. Seine Bücher sind dort sehr beliebt, besonders die Wyatt-Romane, die in Deutschland veröffentlicht wurden.
  • Warum Deutschland? Ein Grund für für Wyatts Beliebtheit in Deutschland könnte darin liegen, dass die deutsche Gesellschaft so höflich, gut erzogen und gesetzesbewusst sei. Sie mögen es, über eine Figur wie Wyatt zu lesen, die die Regeln bricht und damit durchkommt.
  • Disher hält sich am irische Schriftsteller Sean Arbalen: Was man am Anfang braucht, ist ein Charakter, eine Situation und ein Versprechen. Und das Versprechen ist für den Schriftsteller eine Reise mit einer Antwort am Ende. Und dieses Versprechen gilt auch für den Leser. Es muss irgendwohin gehen, etwas erforscht und auf irgendeine Weise gelöst werden. Das funktioniert selbst bei literarischen Romanen.
  • Als er anfing, Kriminalromane zu schreiben, merkte er sehr schnell, dass seine Charaktere in unmöglichen Situationen endeten. Er musste die Handlung verbiegen, um den Charakter zufriedenzustellen, oder den Charakter verbiegen, um die Handlungsanforderungen zu erfüllen, und so weiter.
  • Disher plant für mehrere Wochen, manchmal sogar zwei oder drei Monate, notiert Dinge auf der Rückseite alter Manuskriptseiten - nur mit einem blauen Kugelschreiber. Wenn es ein schwarzer Kugelschreiber ist, verschwindet der Zauber. Das macht er, bis das ganze Buch in seinem Kopf und auf Papier ist, erst dann fängt er an zu schreiben.
  • Wenn er plant, ist es sehr spezifisch und er weiß sehr viel über das, was in jedem Kapitel passiert, wo es gesagt wird, wer daran beteiligt ist, was passiert, zu welcher Tageszeit usw. All diese Dinge sind sehr wichtig.
  • Er hat das Ende frühzeitig im Kopf, weiß aber noch nicht alle Details. Er vertraut darauf, dass ihm die Geschichte letztlich das Ende diktiert.
  • Disher behandelt sein Schreiben wie einen Job. Er schreibt jeden Morgen von 8 bis 13 Uhr, unternimmt lange Spaziergänge. Man muss es wie einen Job behandeln, den man auch macht, wenn man nicht inspiriert ist. Dann gibt es auch keinen Writers Block.

So, jetzt muss ich aber mal Day’s End lesen. Mal sehen, vielleicht springt da ja sogar eine kurze Buchnotiz heraus.