Marathon von einer Straßenlaterne zur Nächsten

„Das Leben ist ein Marathon“, „… schließlich sind wir nicht in einem Sprint, sondern in einem Marathon“. Gerade jetzt hören wir ständig Marathon-Durchhaltesprüche. Dahinter steckt oft ein anderes Wort: Geduld. Denn wer einen Marathon läuft, muss sich die Strecke genau aufteilen und bloß nicht zu schnell loslaufen. Ansonsten klappt das nicht mit dem Finisher-T-Shirt.

Menschen überschätzen, was sie in einem Monat schaffen. Und sie unterschätzen, was sie in einem Jahr können. Wer Heute nur einen Kilometer laufen kann, wird nächstes Wochenende keinen Marathon schaffen. Wer aber dranbleibt und sich behutsam steigert, sollte in einem Jahr einen Marathon „finishen“ können.

Nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam

Beim Marathon – wie auch im „richtigen Leben“ – geht es immer um das „Pacing“. Nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam. Ich darf das schreiben. Denn vor ungefähr dreieinhalb Leben bin ich selbst Marathons gelaufen.

Den letzten Marathon lief ich 1996 in New York. Es war ein eiskalter Tag. Ich stand auf der Verranzano Bridge auf der Staten Island-Seite und ich war nicht sonderlich fit. Einen Monat vor dem Rennen hatte ich mir eine langwierige Achillessehnenzerrung zugezogen und ich konnte nicht besonders viel trainieren. Aber was sollte ich machen? Die Reise war schon gebucht und mein Traum lag gleich hinter der Brücke.

Wer von Marathons spricht, sollte schon einmal einen gelaufen sein

Ich hatte einen Plan. Ich wollte nicht so schnell angehen und dann ein bestimmtes Tempo pro Kilometer laufen. Idealerweise etwa 4:15 Minuten pro Kilometer, um unter die magischen drei Stunden für die 42 Kilometer zu kommen. In den ersten zwei bis drei Kilometern schießt so viel Adrenalin in den Kopf und in die Beine, dass man oft zu schnell läuft und es dann später bitter bezahlen muss. Ich kam da ganz gut durch. Dann suchte ich mir im Feld zwei Läufer, die ein ähnliches Tempo liefen und hing mich an sie dran.

Dann lief es. Es ging durch Queens, Brooklyn und dann über die Brooklyn Bridge nach Manhattan, am Central Park entlang in die Bronx. Und dann passierte es: Meine Achillessehne schmerzte. Der ganze Plan durcheinander. Was nun? Bei Kilometer 28 aufgeben? Niemals. Das war mein Traum und den wollte ich auch leben.

Ein Marathon besteht aus vielen Streckenabschnitten

Ich schleppte mich also von Kilometer, dann von Verpflegungsstation zur Nächsten. Die 42 Kilometer und das Ziel waren egal. Wichtig waren kleine Ziele. Bis zur nächsten Straßenlaterne, bis zur nächsten Kurve. Immer ein Stückchen weiter, bis ans Ziel.

Was viele vergessen: Wenn wir von einem Marathon sprechen, dann ist das meistens keine gleichförmige Reise. Wenn alles klappt, kommen wir ans Ziel. Doch Du schaffst einen Marathon nur, wenn Du Dich von einem Streckenabschnitt zum nächsten hangelst und – wenn Du merkst, dass es schwer wird – sofort justierst. Dann geht es nicht mehr um die Bestzeit, sondern ums Ankommen, ums Durchhalten.

Darum geht es beim Marathon. Keiner fragt später nach Deiner Zeit. Du kannst stolz auf Dein Finish sein, auch wenn es länger als geplant gedauert hat. Hauptsache, Du hast es geschafft und Du bist nicht stur Dein Tempo gelaufen, sondern hast auf Deinen Körper und Deinen Bauch gehört – und die richtigen Entscheidungen getroffen.