Menschsein (01) - Schreibschrift üben

Neulich habe ich in einer dieser Kisten unter unserem Haus einen Aktenordner mit alten Dokumenten gesucht. Dabei bin ich auf mehrere Kisten gestoßen, in denen viele schwarze Moleskine-Notizbücher in verschiedenen Größen lagen. In ihnen steckt mein analoges zweites Gehirn aus den Jahren 1997 bis etwa 2015. In diesen Jahren habe ich sehr viel Handschriftliches hinterlassen.

Damals saß ich stundenlang in Cafés und habe Menschen beobachtet und für mich interessante Dinge aufgeschrieben. Ich habe tief in meiner Seele gekramt, um zu verstehen, was mich ausmacht, was mir fehlt und was ich will - wahrscheinlich oft zu viel davon. Ich habe dort Mitschriften von Meetings hinterlassen und natürlich viele Listen geführt über die Dinge, die ich in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten erledigen möchte: Wie viel Geld kommt herein oder fehlt noch? All das.

Ich habe also einige Zeit unter dem Haus verbracht und ein wenig in den Notizbüchern geblättert. Dabei ist mir aufgefallen, dass sich meine Handschrift im Laufe der Jahre doch sehr verändert hat. Man sieht genau, wann ich gestresst oder unkonzentriert war und wann ich mir richtig Mühe für ein gutes Schriftbild gegeben habe. Tendenziell sahen die ersten Seiten der einzelnen Bücher weitaus leserlicher aus als die letzten Seiten. Schade: Es gab eine Zeit, in der ich mit einem dünnen Bleistift schrieb und meine Schrift leider so krakelig ist, dass selbst ich sie kaum noch lesen kann. Heute würde ich meinem 25-jährigen Ich “Schreib ordentlich, Junge!” zurufen. Aber dafür gab es einen Grund, wenngleich einen recht fadenscheinigen: Mir ging es damals bewusst nicht um das Erhalten der Inhalte, sondern um das reine Aufschreiben, das Loswerden. Das hat zumindest funktioniert.

Das alles führt mich zu einer losen Serie, die ich hier in meinem kleinen digitalen Notizblog starten möchte, nämlich das Feiern des “Menschseins”. Und dazu gehört die Handschrift. Vor knapp einem Jahr habe ich damit angefangen, meine Handschrift zu verbessern. Einfach so, ohne einen speziellen Grund dafür. Und nicht nur das, ich habe auch die Schreibschrift aus der Schule noch einmal gelernt. So wie damals meine Kinder, habe ich mir die einzelnen großen und kleinen Buchstaben des Alphabets erobert und am Anfang meine recht krakelige Handschrift auf eine noch unordentlichere Schreibschrift umgestellt.

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Mein Ziel ist es, einen Flow mit meiner Hand hinzubekommen, sodass ich jedes Wort möglichst ohne abzusetzen schreibe. Das geht bei Buchstaben wie einem großen T oder einem großen B natürlich nicht so richtig, aber nahezu jedes Wort in einem Strich - in einem Zug durchzuschreiben. Ganz bewusst möchte ich mir dafür Zeit nehmen.

Es ist meine ganz individuelle Schrift und ein Zeichen meines Menschseins. Natürlich kann das eine Maschine besser und schneller erledigen, aber die Maschine druckt nur. Vielleicht könnte sie auch meine persönliche Handschrift nachahmen, aber darum geht es nicht. Ich möchte mir die Zeit nehmen - ohne Abkürzungen - meine eigene langsame Handschrift zu entwickeln.

Inzwischen schreibe ich wieder viel mehr mit der Hand und es fühlt sich gut an. Denn durch das langsame Bewegen meiner Hand bremse ich auch meine Gedanken herunter, die sich normalerweise mit vollem Druck gegen die Gehirnwand drücken und preschen. So komme ich zu anderen, vielleicht sogar etwas tieferen Gedanken. Hinzu kommt, dass ich an einem Tag in der Woche meine gesamten digitalen Geräte ausschalte und nur Bücher aus Papier lese und dazu Notizen auf Papier mache. Das fühlt sich sehr gut an.

Das spricht vielleicht gegen alle Produktivitätsgrundsätze, aber ich möchte gar nicht schneller sein, sondern ich möchte ganz bewusst langsamer sein. Für mich ist es das Feiern des Menschseins. Gerade weil ich immer mal auch Fehler in meine Handschrift bekomme. Ich bin zu ungeduldig und aus einem N wird ein M. Oder ich vergesse ein Wort. Was für mich bedeutet, du musst noch langsamer schreiben.

Ich bin noch lange nicht dort, wo ich sein möchte. Inzwischen sieht meine Handschrift für meine Begriffe schon nicht mehr ganz so krakelig aus, wie noch vor einem Jahr. Ich werde einfach weiter üben, jeden Tag. Wenn ich Lust habe, schreibe ich Gedichte von alten Autoren ab. Oder ich überlege mir selbst Texte. Mein großes Ziel ist es, dass ich auf einem unlinierten Blatt mit geschlossenen Augen Texte in Schreibschrift schreibe, die nicht über die halbe Seite gehen und wunderbar lesbar sind. Das wird wahrscheinlich noch einige Jahre dauern.

Ich kann mir vorstellen, dass ich mit vielen Übungen auch schneller werde, aber eigentlich will ich das gar nicht. Ich genieße es, langsam den Stift zu führen und die Haken bei einem N wunderbar auszuführen, ohne dabei wie ein Kind zu schreiben. Das macht mir Spaß und es beglückt mich. Für mich ist das ein Zeichen, ein Mensch zu sein. Die Maschine kann andere Dinge besser.