Buchnotiz: 'Kampfschrift gegen den Lärm' von Theodor Lessing
Ich liebe es, in der Projekt Gutenberg Bibliothek zu stöbern und literarische Schätze aus vergangenen Epochen zu entdecken. Kürzlich bin ich auf ein faszinierendes Zeitdokument aus dem Jahr 1908 gestoßen, verfasst von dem Schriftsteller und Philosophen Theodor Lessing: „Der Lärm – eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens“.
„Kampfschrift“ klingt zunächst einmal recht kriegerisch. Wer hätte jedoch damals, nur sechs Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, ahnen können, welche Schwere dieser Begriff später einmal tragen würde. Heute würde man Lessings Werk wohl eher als Ausdruck bürgerlichen Unmuts bezeichnen. Und genau so wirkt es auch. Dies wird bereits im ersten Satz klar: „Ungeheuerliche Unruhe, grauenhafte Lautheit lastet auf allem Erdenleben.“ Ein düsterer Anfang, der sich nicht mehr aufhellen wird.
Lessings Kampf gegen den Lärm
Lessing setzt sich nicht nur mit dem Lärm auseinander. Er möchte auch gegen eine tief verwurzelte Neigung der Seele kämpfen: das Verlangen nach Bewusstlosigkeit und Vergessen, unsere Neigung zu allem, was unser bewusstes Wissen betäubt oder verdunkelt.
„Alles, was in unsere Ohren eindringt, fordert uns auf, uns in fremde Willens- und Gefühlszustände hineinziehen zu lassen“, kritisiert er. „Besonders betroffen sind die Menschen, die in Ruhe arbeiten und sich stark konzentrieren müssen. Je individueller unsere Arbeit und unser Leben sind, desto mehr benötigen wir Sammlung, Einkehr und Selbstbewahrung. Umso quälender, verbitternder und demütigender muss der ständige Anreiz zu Ablenkung und Zersplitterung durch eine laute, aufdringliche Umwelt auf uns wirken.“ Hier entlädt sich offensichtlich einiges, was sich bei ihm über die Jahre angestaut hat.
Brummen, donnern, poltern, rauschen, rascheln: überall Lärm
Auch für Lessing gilt: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Er ist überzeugt, dass der Mensch sich nur im Schweigen und in der Ruhe wirklich selbst verstehen kann. „Sobald der Mensch zu reden beginnt, ist sicherlich jemand unter den Zuhörern besser in der Lage, den Sprechenden zu verstehen, als dieser sich selbst durchschauen möchte.“ Doch der Lärm übertönt alles.
Im mittleren Teil des Buches widmet sich Lessing den verschiedenen Geräuschen und was ihn daran stört. Er würdigt onomatopoetische Wortbildungen, die den Klang direkt im Wort einfangen, wie Brummen, Donnern, Poltern, Rauschen, Brausen, Rascheln, Knarren und Piepsen. Doch auch die Musik, die er als „edle Schwester des Lärms“ bezeichnet, kommt nicht gut weg. „Wenn eine Modedame auf hohen Absätzen vorüberrauscht, dann höre ich nur ein bestimmtes Knarren im hohen e.“
Die neuen Geräusche der „transportablen Maschinen“
Für Lessing gibt es viele Geräusche, die schlichtweg verboten gehören. Dazu zählt er aus seiner Zeit das Peitschenknallen und das Dampfpfeifen. Auch gegenüber den „neuen Geräuschen“ der transportablen Maschinen, wie Eisenbahnen, Motorräder, Busse und Automobile, zeigt er wenig Toleranz: „Das sind Entvölkerungsmaschinen, die wie vierhundertpfündige Kraftbolzen rülpsen, roh daherkommen, im tiefsten Ton der Übersättigung.“
Er nimmt sich viele Seiten Zeit, um die Lärmbelästigung durch Kirchenglocken, Haustiere – „dieser Lärm ist unerträglich, weil er immer irgendein Leiden offenbart, dem man nicht beikommen und helfen kann“ –, Hunde, Hühner, Wild, aber auch das Teppich- und Bettenklopfen detailreich zu beschreiben. Das ist alles gut geschrieben und recht unterhaltsam.
Gesetze gegen den Lärm
Aber da muss doch noch mehr kommen. Spätestens im letzten Drittel des Buches frage ich mich, ob und welche Wendung dieses Buch noch nehmen wird. Lessing taucht nun tief in die Rechtsprechung des Deutschen Reiches ein. So besagt beispielsweise das Strafgesetzbuch, dass wer hohen, störenden Lärm oder groben Unfug verübt, mit einer Geldstrafe von 150 Mark belegt wird. Das hält er für viel zu wenig. Anhand zahlreicher Gesetze und Fälle versucht er, seinen Standpunkt zu untermauern: Lärm muss gesetzlich verboten werden.
Das mag heute nur noch für Rechtshistoriker interessant sein, aber es zeigt: Lessing hat sich gründlich informiert und meint es ernst. Er bringt viele Gesetze ins Spiel, kommt aber immer wieder zum gleichen ernüchternden Schluss: Es ist aussichtslos, man kann nichts machen.
Wer gegen den Lärm kämpft, muss selber laut werden
Am Ende schreibt er resigniert: „Wer gegen den Lärm kämpft, muss Lärm schlagen. Wer im allgemeinen Geschrei und Getöse gehört werden will, muss lauter sein als die anderen.“ Damit gibt er auf, wirft die Hände in die Luft und schließt sein Buch „ohne Hoffnung, dass es viel nutzen wird“ – und lässt seine Leser im Lärm der Moderne zurück.
Was bleibt nun nach der Lektüre dieses Buchs? Der Text ist etwas sperrig, doch ich schätze diesen alten Schreibstil mit seinen langen, verschachtelten Sätzen, die eine intensive Auseinandersetzung erfordern. Allerdings lässt mich Lessing mit einem unbefriedigten Gefühl und der Frage zurück: Und jetzt? Mir fehlen konkrete Hinweise, wie man mit dem Lärm umgehen kann. Lessing betont die Wichtigkeit von Ruhe und ungestörter Arbeit für denkende Menschen und sucht die Lösung in Gesetzesänderungen, obwohl er sieht, dass die Welt immer lauter wird.
Der Kampf verschiebt sich von der Außenwelt in die Innenwelt der lauten Gedanken
Ich stelle mir vor, dass 1908 die Straßen noch nicht so von Autos bevölkert waren wie heute und dass diese lauter und ratternder waren. Für mich liest sich das Buch wie eine angestaute Wutrede gegen den Lärm, ohne ein Patentrezept, um damit umzugehen. Ich glaube, dass wir heute in weitaus leiseren Zeiten leben. Elektrische Autos und Bahnen sind leiser, Städte und Kommunen achten mehr auf Lärmschutz. Aber der Lärm in unseren Köpfen ist sicherlich lauter und allgegenwärtiger geworden. Er dringt aus unseren Kopfhörern, besteht aus unablässigen Gedanken, aus den lauten Stimmen der Menschen, die alles übertönen. Die Lärmbelästigung hat sich also in unsere Köpfe verlagert.
Wahrscheinlich gab es 1908 noch viel mehr ruhige Orte als heute. Es gab weniger Menschen, die Städte waren kleiner und von Wäldern umgeben. Für Lessing schien der Lärm unausweichlich, er fühlte sich verfolgt. Er konnte den Lärm nicht mehr als „weißes Rauschen“ nutzen und in sich selbst Ruhe finden. Das ist die Herausforderung, die sich seit über hundert Jahren nicht verändert hat: Nur wer innerlich zur Ruhe kommt, kann mit dem Lärm von außen umgehen.
Die Buchnotizen schreibe ich nur für mich. Deswegen lesen sie sich vielleicht etwas kryptisch. Lies es doch einfach selbst. Weitere Buchnotizen findest du hier.